KI erklärt für alle? – „Natürlich alles künstlich“ von Philip Häusser (2021) im MLTech-Buchreview

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verfasst von Nicolas Bodenschatz und Leonie A. L. Nitsche

Künstliche Intelligenz (KI) beeinflusst zunehmend unseren Alltag – beruflich, gesellschaftlich, wie auch privat. Auch abseits der MINT-Fächer ist dies der Mehrheit von Studierenden bewusst, dennoch bleibt KI für viele eine Blackbox. Dass diese Technologie allerdings auch für Nichttechniker und besonders für Juristen von herausragender Bedeutung ist, bezeugen nicht zuletzt zahlreiche neugeschaffene Lehrstühle und spezialisierte Kanzleien auf diesem Gebiet.

Allen, die Lust haben diese Blackbox zu öffnen, stellt sich damit die Frage: Wo anfangen? Philip Häussers kürzlich erschienenes Sachbuch „Natürlich alles künstlich – Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht“ bietet einen informativen und gleichzeitig zugänglichen Startpunkt, wie wir finden.

Ein wilder Ritt durch die KI-Entwicklung

Wer dachte, KI sei ein Phänomen der letzten Jahre, wird gleich zu Beginn des Buches überrascht werden. Ein Rückblick Philip Häussers in die Vergangenheit der Informatik zeigt, dass die ersten Überlegungen rund um künstlich – von Menschenhand – erzeugte Intelligenz bis zurück in die Antike gehen. Schließlich verschaffte die vielzitierte Dartmouth Konferenz bereits im Jahr 1956 dem Forschungsgebiet seinen Durchbruch.

„Natürlich alles künstlich“ bleibt jedoch nicht bei einem historischen Überblick, sondern wendet sich dem für AI-Anfänger wohl nebulösestem Aspekt zu: Wie kann KI überhaupt funktionieren? Diese technischen Grundlagen zeigt der promovierte Informatiker in der ersten Hälfte seines Textes auf. Was sind Neuronale Netze und Algorithmen? Welche Rolle spielen Daten und wie trainiert man eine KI? Der für Laien meist diffuse und schwer zu überblickende Sammelbegriff KI wird so, an seine technischen Ursprünge geknüpft, deutlich klarer. Scheinbar ganz nebenbei erfährt der Leser zudem, wo eigentlich die häufigsten Fehlerquellen, sowie die großen Chancen und Risiken von KI liegen.

Wie wird das Künstliche intelligent?

Ähnlich wie das Gehirn eines Kleinkindes Wissen durch „trial and error“, Assoziationen und Verknüpfungen aus der Umgebung erlernt, lernen auch Algorithmen. Besonders wichtig ist hierbei immer eines: positive Bestärkung, beziehungsweise „positive learning“. 

Aber worüber freut sich eigentlich ein Algorithmus? Anders gefragt: Wie lässt sich die Funktionsweise menschlicher Neuronen in die Welt der Informatik übertragen? Die Antwort hierauf findet sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Modelle, wie zum Beispiel der „McCulloch-Pitts-Zelle“ oder dem „Multilayer Perceptron“, die in „Natürlich alles künstlich“ detailliert vorgestellt werden.

Eine letzte wichtige Erkenntnis, die sich aus jeder Beschäftigung mit KI ziehen lässt, ist der Einfluss des Menschen selbst. Oft führt dies dazu, dass die KI der Menschheit den Spiegel vorhält. Denn Algorithmen basieren auf Daten und (frei zitiert nach dem Autor selbst) so etwas wie unvoreingenommene Daten gibt es kaum. So kann eine KI ihre Arbeit rein formal noch so perfekt verrichten, und dabei im Ergebnis trotzdem ein fast groteskes Bild gesellschaftlicher Fehler und Vorurteile wiedergeben.

Keine Sorge vor einem künstlichen Dystopia?

Wohl aufgrund seines technischen Hintergrunds konzentriert sich Häusser über das Buch hinweg auf die (bisherigen) Grenzen von KI. Diese bezeugen ihm zufolge, dass viele der kursierenden technologischen Schreckensszenarien in die Science-Fiction Abteilung gehören, jedoch nicht echten Anlass zur Sorge geben. Schwarzmalerei sollte, mit ihm gesprochen, einer technisch informierten und anwendungsorientierten Debatte weichen.

Diese recht klare Abfuhr an gesellschaftliche Zukunftsszenarien überrascht insbesondere Leser von „Leben 3.0: Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ des renommierten Physikers Mark Tegmark (2017): Dieser zeichnet diverse – mehr oder sehr viel weniger wünschenswerte – Zukunftsszenarien für menschliche Gesellschaften im Falle einer immer weiterschreitenden KI-Entwicklung auf, welche aus wissenschaftlicher Sicht sämtlich im Bereich des Möglichen liegen. Dass gerade plastische Zukunftsszenarien Laien sensibilisieren und einen gesellschaftlichen Diskurs fördern, beweist nicht zuletzt die erfolgreiche Serie Dark-Mirror.

Freilich merkt auch Häusser an, dass Singularität, also der Moment, in dem die Intelligenz von KI die menschliche übersteigt und sich damit zumindest theoretisch selbst immer weiter steigern kann, von vielen gewichtigen Stimmen in der Wissenschaft in den nächsten 50 Jahren erwartet wird. Insofern es Häusser ein ausdrückliches Anliegen ist, einen demokratischen Diskurs hinsichtlich der Zukunft unserer Gesellschaft anzustoßen, so verwundert, dass sein Buch über den Tellerrand der technischen Details zu wenig hinwegblickt.

Zwischen Aha-Erlebnissen und irritiertem Kopfschütteln

Zu Höchstform läuft das Buch zumindest indirekt in den letzten Kapiteln auf, welche insbesondere Deepfakes, autonome Fahrzeuge und Häussers eher tastende Einschätzungen zu Regulierung und Big Tech beinhalten. Dass – zumindest wir – uns in diesen Kapiteln ständig zwischen Aha-Erlebnissen und verwundertem Kopfschütteln wiederfanden, zeigt deutlich: Jenseits der technischen Details beginnen die sensiblen ethischen und gesellschaftlichen Fragen, welche uns alle angehen.

Dass Häussers Blick in die Blackbox KI dem Leser unzählige persönliche Fragen, Zweifel und Gedanken in die Hand drückt, sehen wir somit als die große Stärke des Buches an. Eine weitere Beschäftigung mit dem Thema KI scheint so vorprogrammiert. Und wer noch zweifelt, ob er sich zwischen Klausuren und Seminararbeiten zusätzlich mit KI beschäftigen möchte: Das Buch ist auch nach einem langen Tag noch kurzweilig und unterhaltsam; Dabei steht auch der manchmal flache Humor des Buches einer steilen Lernkurve nicht im Weg.

*Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.

Ãœber die Autoren

Nicolas studiert Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität sowie Politics & Technology (M.Sc.) an der Technischen Universität München. Aktuell beschäftigt ihn seine Masterarbeit zur zukünftigen Regulierung von Deepfakes nach dem Artificial Intelligence Act der EU. Seine Freizeit enthält Bergtouren, russische Romane sowie Wassermelonen-Salat zu gleichen Teilen und wird in einem Tumbler serviert.

Leonie studiert Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität und ist nebenher in der Softwarebranche tätig. Artikel schreibt sie sowohl privat, als auch beruflich und für MLTech.

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